Der organisierte Sport im Schatten von Corona – Herausforderungen und Zukunftsperspektiven 

Kinder und Jugendliche in der Zeit der Corona-Krise – Gewinner oder Verlierer?

Der Workshop widmet sich der Frage, ob und inwieweit Kinder und Jugendliche in ihrer qualitativen und quantitativen Bewegung seit der Corona-Pandemie und insbesondere während des Lockdowns eingeschränkt wurden. Gemeinsam mit Experten aus dem Kinder- und Jugendsport sollen erste Befunde sowie die Rolle von Schule/Kita, Verein und familiären Umfeld auf das Bewegungsverhalten erörtert werden.

Schockstarre Lockdown: Bewegungsstillstand?

Dass Kinder und Jugendliche immer mehr zu Bewegungsmuffeln werden, ist nicht neu. Auch vor Corona schafften es nur 15 Prozent der Kinder, eine Stunde täglich aktiv zu sein. Wie die Motorik-Modul-Studie (MoMo-Studie1) belegt, spielen Sportvereine und Schulen eine zunehmend größere Rolle bei der Förderung körperlicher Aktivitäten. Mit der Corona-Krise und dem Lockdown bestand also die berechtigte Sorge, dass Heranwachsende zuhause sitzen und sich nur noch wenig bewegen.

Aber Herausforderungen bergen auch Chancen. Das zeigte eine Stichproben-Untersuchung von MoMo-Teilnehmenden während der Corona-Zeit: Erstaunlicherweise kamen nun immerhin 31 Prozent auf 60 Minuten Bewegung am Tag.

Corona hat den Bewegungsmangel zwar definitiv verstärkt, da Alltagswege und -bewegung wegfielen, etwa der Weg zur Schule mit dem Rad und der Sport im Verein. Aber Familien, die Bewegung gewohnt sind, haben schnell Alternativen gesucht: ab in die Parks, ab in die Wälder – joggen, wandern, Inline skaten, Frisbee spielen, Bälle kicken oder Online-Angebote wie »ALBAs tägliche Sportstunde«. Wer flexibel war, fand Möglichkeiten für Bewegung. Der Winter-Lockdown erschwert die Situation jedoch, denn bei 3 Grad und Nieselregen fehlt der Antrieb raus zu gehen.

Weniger Wettkampf, weniger Motivation

Kinder haben ein Recht auf Bewegung. Ungünstigerweise wurde während der Pandemie bislang viel über Kinder und Jugendliche entschieden – nur nicht mit ihnen. Sie sind die großen Verlierer*innen der Corona-Krise. Denn auch wenn Aktivitätsalternativen vorhanden sind – Heranwachsende benötigen als Motivation den sportlichen Vergleich in Form von Wettkämpfen und Wettbewerben. Darüber hinaus gehören zum Sport auch diejenigen, die anleiten und motivieren: Trainer*innen, Übungsleitungen, Lehrer*innen.

Sporträume öffnen, Methoden anpassen

Kinder und Jugendliche brauchen die Gemeinschaft. Unter Einhaltung der AHA + L-Regeln wäre es deshalb gerade im Winter essenziell, Schul- und Vereinssporthallen für Sporteinheiten zu öffnen. Dafür muss die Sportstätteninfrastruktur in den Blick genommen werden. Denn Sport als Gesundheitsvorsorge braucht geeignete Bewegungsräume, ob indoor oder outdoor.
Nötig und überfällig ist eine Initiative zum Ausbau, zur Sanierung und Modernisierung von Sportstätten und Sporträumen. Dabei sollten gewisse Mindeststandards etabiliert werden, um adäquates und infektionsschutzgerechtes Sporttreiben zu ermöglichen.

Neben dem Ziel, nutzbare Orte zu finden, ist es notwendig, Inhalte und Methoden des Sportunterrichts anzupassen: Zum Beispiel sollten Elemente mit Körperkontakt und Hilfestellung vermieden werden. Zudem muss sich der Unterricht in dieser Phase weg von traditionellen Sportspielen bewegen, die Kontakt zwischen den Kindern und Jugendlichen erfordern.
Alternativ kann man sich an Trendsportarten und -geräten orientieren. Beispielsweise mit Scootern oder BMX-Parcours lassen sich in Schulen andere Bewegungsfelder nutzen, die pandemiekonformen Abstand garantieren.

Umdenken in Schulen, Vereinen, Ausbildung erforderlich

Statt zu resignieren, ist es nun gefragt, kreative Ideen aus der Krise zu ziehen, beispielsweise mit Konzepten wie »Bewegte Pause« oder »Bewegter Unterricht«. Zudem ist es wichtig, Sport und Bewegung im Freien zu forcieren. Dabei lohnt es, in andere Länder zu blicken: Ein positives Beispiel bietet die »Draußenschule«2 in Skandinavien. Auch hierzulande gibt es bereits Schulen, die diesem Vorbild folgen.

Außerdem werden derzeit hybride Unterrichtsformen für Sport weiterentwickelt, analoge und digitale Lernangebote verknüpft. Und auch mit Maske im Unterricht oder in der Vereins-Übungsstunde sind viele Aktivitäten durchführbar. Die Verantwortlichen müssen den Schulsport, aber auch den Vereinssport neu denken – und damit gleichfalls die Ausbildung für Sportunterrichtende wie Lehrer*innen und Übungsleitungen. Denn nur so werden sie gestärkt und gerüstet für weitere Krisen.

Kooperationen in Angriff nehmen

Wie lässt sich die Lockdown-Zeit nutzen, um die Jugend bestmöglich durch die Krise zu begleiten? Was brauchen Schulen, Vereine, Gesellschaft, um den Sport wiederaufzunehmen und aus der Situation grundsätzlich zu lernen?

Aussichtsreich sind vor allem Kooperationen zwischen Schulen und Sportvereinen. Denkbar sind dabei konkrete Ideen wie zum Beispiel, Kinderturnen als Grundlagenausbildung in den Schulen anzubieten, angeleitet von Vereinsübungsleiter*innen. Vor allem in Grundschulen, in denen die Sportexpertise im Kollegium oft fehlt, scheint dies sinnvoll. So würde später, wenn Lockerungen der Corona-Maßnahmen es zulassen, ein differenziertes Sporttreiben ermöglicht.

Potenzial der Vereine nutzen

Das Know-how, die Ideen und die Kreativität für Alternativangebote sind im organisierten Sport reichlich vorhanden. Umsetzbar ist vieles, sofern die Sportstätten oder auch öffentliche Räume dafür genutzt werden können. Aktuell scheitert jedoch vieles daran, dass nicht alle die vorhandenen Räume nutzen dürfen.

Hilfreich, um Kinder und Jugendliche generell wieder mehr in Bewegung zu bringen, wären niedrigschwellige Sportangebote außerhalb der Vereinsgelände und Vereinsstrukturen. Und vor allem nicht zwingend verbunden mit einer Mitgliedschaft. Ballspiele im Park unter Vereinsanleitung, offen für alle, oder Kooperationen für Bewegungsangebote mit Krankenkassen und Kommunen sind beispielsweise denkbar.

Gemeinsam starke Lobby sein

Die Krise zeigt: Es gibt viele engagierte Menschen, durch deren Einsatz und Kreativität es gelingt, Bewegungsangebote zu schaffen – auch in Zeiten der Pandemie. Der organisierte Sport mit 27 Millionen Mitgliedern bundesweit hat dabei viel Potenzial. Turnvereine haben auch in der Vergangenheit Krisen überstanden; beispielhaft ist dafür die Hamburger Turnerschaft, die in 200 Jahren ihres Bestehens u. a. zwei Weltkriege überstanden hat.

Der gesellschaftliche Wert von Vereinen als Orte des Miteinanders, des sozialen und körperlichen Lernens, ist nicht zu unterschätzen. Diese gemeinsame, starke Kraft muss zukünftig genutzt werden, um auf die Politik einzuwirken und Veränderungen anzustoßen.

Irgendwann ist die Pandemie vorbei, dann können die Vereine wieder mit ihren gewohnten Angeboten für die Menschen da sein. Bis dahin sind Ideenreichtum und Improvisationstalent gefragt – plus Unterstützung auf politischer Ebene.

Was können wir für die Zukunft tun? Handeln ist gefragt!

Der organisierte Sport, die Verbände, die Schulen, aber auch die Politik haben nicht nur in der Krise eine soziale Verantwortung: Für die Bevölkerung, vor allem für die Heranwachsenden muss es eine langfristige Perspektive geben, wie, wo und unter welchen Umständen sie sich bewegen können. Psychische Folgen des Lockdowns wie das Abgleiten in Depression, gilt es zu verhindern. Dabei kann Sport helfen.

Deshalb müssen sich Vereine, Verbände, Schulen, Kitas, Kommunen, Krankenkassen und politische Entscheidungstragende gemeinsam stark machen für Bewegung.

Die Verbände sollten auf die Kultusministerien einwirken, damit das Schulsystem für außerschulische Sportaktionen geöffnet wird. Auch das Betretungsverbot der (Vereins-) Sportstätten muss baldmöglichst aufgehoben werden.

Vereine und Verbände sollten zudem die Gestaltung von Spiel-, Sport- und Bewegungsflächen in den Kommunen mit beeinflussen können, sodass es möglich wird, den öffentlichen Raum für Bewegungsangebote zu nutzen. Nur so lassen sich niederschwellige freie Angebote kurzfristig umsetzen – was für die jungen Generationen entscheidende, wirkungsvolle Hilfe bedeutet.

Workshopleitung
• Dr. habil. Katja Ferger (DTB-Vizepräsidentin Sport, Lehr-
kraft für besondere Aufgaben am Institut für Sport-
wissenschaft Justus-Liebig-Universität Gießen)
• Wiebke Glischinski (Vorsitzende Deutsche Turner-
jugend, Senior Human Resources Partner Deutsche
Bahn)
• Julia Schneider (Vorstand Deutsche Turnerjugend,
Ausschussmitglied Bundesjugendspiele)


 
Expertinnen und Experten

• Alexander Erg (Geschäftsführer TSG Weinheim 1862)
• Michael Fahlenbock (Präsident Deutscher Sportlehrer-
verband)
• Prof. Dr. Annette Hofmann (DTB-Vizepräsidentin Gesell-
schaftspolitik, Hochschulprofessorin, Pädagogische
Hochschule Ludwigsburg)
• Kerstin Holze (Vorstandsvorsitzende Deutsche Kinder-
turn-Stiftung, Kinderärztin)
• Olaf Jähner (Geschäftsführer Vereinsentwicklung
Niedersächsischer Turner-Bund, 2. Vorsitzender Turn-
Klubb zu Hannover )